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KANIKOSEN

Veröffentlicht am 14.12.2013
Kanikosen heißt der der kurze, 1929 erschiene Roman von Takij Kobayashi.


Auf Deutsch: Krabben-Fabrik-Schiff. Es geht um 400 Mann an Bord eines alten Schiffes, das gut versichert ist. Die Arbeiter frieren, hungern, werden geprügelt, gefoltert und gegeneinander ausgespielt. Alles in Namen des Kaiserreichs, der Ehre und der Größe Japans. Sie schlachten Krabben, schälen sie und packen sie in Konserven ab. Als ein Sturm aufzieht, will der Boss trotzdem Boote zur See lassen. Eine Meuterei bricht aus, bis ein Marine-Kreuzer zu Hilfe eilt. Er nimmt die angeblichen Rädelsführer auf und... verhaftet sie. Auf See gibt es keine Rechte. Nachdem sie sich vom Schock erholt haben, planen sie die nächste Meuterei. Aber zunächst muss der Funkraum besetzt werden.


 


Das wäre nur ein unbedeutendes Zeitzeugnis, wäre nicht zum 75. Todestag des Autors (er wurde 1933 zu Tode gefoltert, das Buch sei Majestätsbeleidigung) eine Neuauflage erschienen. Inzwischen wurden 500.000 Exemplare verkauft, dazu 200.000 Exemplare in einer Manga-Version, obwohl man es im Internet auf Japanisch umsonst lesen kann.


 


Warum ist das so aktuell? Ein Drittel der jungen Japaner arbeitet heute in Zeitjobs. Sie können sich zwar täglich duschen, aber die Prinzipien der Bosse von einst sind dieselben, nur subtiler geworden. Der Mensch ist wieder das, was er immer war in Zeiten, in denen es mehr Mensch als Bedarf an Arbeit gibt: Verfügungsmasse und Kostenfaktor.


 


Sämtliche Wertediskussionen, Arbeitsmodelle, Verhalten-Kodex-Muster oder sonstige „ethisch korrekte“ Wahnvorstellungen finden auf dem Prüfstand der bodenständigen Grundwahrheiten ein jähes Ende. Sie erweisen sich als das, was sie sind: Luxus.


 


Dabei zeigt sich insbesondere am Beispiel des Funkraums, wie wichtig der Zugang zu spärlich verteilten Ressourcen ist. Früher war es offensichtlich die Kommunikation: hierarchische Strukturen definieren sich und agieren über knappe Verteilung von Information und selektiven Zugang. In Zeiten des Internets, wo es zu einer Verflachung von Information und Kommunikation kommt, hat das zu einer neuen Machtverteilung geführt, wie sich die Gesellschaft eben mehr oder weniger bewusst definiert: ein Buch wie Kanikosen stört heute keinen mehr, es ist öffentlich zugänglich, weil die Strukturen nicht mehr auf selektive Zugangsbeschränkung angewiesen sind. Der ominöse Big Brother hat sich in unzählige kleine Brothers verwandelt und der Konsens über grundlegende Fragen steuert den Mechanismus der Wahrnehmung und daraus folgend die Akzeptanzkriterien. Anders ausgedrückt: in dem Moment, wo über Liebe, Ehre oder Gerechtigkeit diskutiert wird, sind diese Dinge längst tot und verschwunden.


 


Täglich lese ich Nachrichten über Verschwörungen, Betrugsfälle und grenzenlose Idiotie angeblich in Politik und Wirtschaft. Noch nie habe ich etwas darüber gelesen oder gehört, warum es eigentlich nicht verboten ist oder nicht verfolgt wird, wenn man sich öffentlich so verbreitet? Einen „Kanikosen“-Effekt zu bewirken, also einen Lebensentwurf zu finden und zu verbreiten, der WIRKLICH BEDROHLICH ist, weil der die Grundfeste des aktuellen Werte- und Machtgefälles angreift, habe ich noch nicht gefunden. Dafür kann es nur einen Grund geben: es gibt überhaupt keine Macht an sich mehr, keinen Plan und keinen Gestaltungswillen für die Zukunft von wem auch immer. Nur noch eine grenzenlose Gleichgültigkeit. Der einzige Lebensentwurf dagegen ist bedingungsloses Engagement, bereits im sog. Kleinen, im privaten Bereich. Bedingungslos, weil es keine Gegenleistung fordert, sondern einfach nur „da ist“. Diese Art von Verhalten wird generell abgetan mit „Der hat’s echt nicht kapiert, was Sache ist“. Also, lassen wir es bleiben, oder?